Meine eigenen Character Designs und Kurzgeschichten inspiriert von Walter Moers Buch »Rumo und die Wunder im Dunkeln«


Da Wolpertinger in ganz Zamonien als gefürchtete Gegner betrachtet werden, gibt es das zamonische Sprichwort "Da kannst du dich auch gleich mit einem Wolpertinger anlegen". Mit diesem Spruch warnt man jemanden vor einer gefährlichen Sache, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Denn Wolpertinger gelten als nahezu unbesiegbare Kämpfer, denen nur andere Wolpertinger gewachsen sind. (– Zamonia Wiki)


Wolpertinger I 
Abellardo von Florinth
(Dobermann)

Wenn du müde bist, schlaf. Wenn du hungrig bist, iss. Wenn du laufen willst, lauf. Wenn du kämpfen willst, denk noch mal drüber nach und dann hau kräftig drauf. Einfache Regeln, die sich Abellardo von Florinth im Bewusstsein halten musste, um den Zwängen seiner Erziehung etwas entgegenzusetzen.
Abellardo war als Welpe nach Florinth gebracht und an eine wohlhabende Familie verkauft worden. Man brachte den jungen Wolpertinger zur besten Tiertrainerin von Florinth, denn Abellardo sollte kein einfacher Wachhund werden. Abellardo sollte der Familie als loyaler und verständiger Wächter dienen.

In der Tat wuchs sein Intellekt so schnell wie seine Muskeln. Doch Abellardos Wesen erhielt nicht die gleiche Förderung, die man seinem Verstand und seinen Kampffertigkeiten zukommen ließ. Als Abellardo an seine Familie übergeben wurde, konnte er zwar sprechen, doch er tat es nicht ohne Aufforderung. Er ging auch nirgendwo hin, ohne angewiesen worden zu sein. Befahl man ihm vor einer Tür zu wachen, so blieb er dort stehen, bis man ihm etwas anderes befahl.

Abellardo traf keine eigene Entscheidung, er kannte keine Freiheit. Er kannte auch nicht die Wärme einer Familie, denn man behandelte ihn nicht wie ein Mitglied. Abellardos Besitzer misshandelten ihn nicht, obwohl die Kinder sich manchen Scherz mit ihm erlaubten, doch sie gaben ihm zu verstehen, dass sie Besitzer waren.
Abellardo erfuhr zum ersten Mal Zuwendung, als man ihm hinreichend vertraute, um ihm den Kontakt zum jüngsten Mitglied der Familie zu erlauben. Das kleine Mädchen von fünf Jahren stapfte unbeholfen, aber munter auf ihn zu. Sie war frei von den eitlen Vorbehalten ihrer Geschwister und gluckste begeistert, als sie Abellardo durchs Fell wuschelte. Abellardo, der nicht zuletzt wegen seines Trainings jede Behandlung klaglos mitgemacht hätte, begann aufzutauen. Noch lange danach dachte er an diesen Moment zurück und hielt ihn für den eigentlichen Beginn seines Lebens.

Bei jeder Gelegenheit spielte das Mädchen mit Abellardo, lief mit ihm durch den Park und schlief auf dem Heimweg in seinen Armen. Abellardo lernte. Er lernte Lebensfreude.
Nach einiger Zeit verboten die Eltern des Mädchens Abellardo den Umgang mit dem Kind, denn das Mädchen hatte zu ihm eine stärkere Bindung entwickelt, als zu ihren Eltern. Abellardo fühlte sich außer Stande, etwas gegen die Entscheidung zu unternehmen. Seine Ausbildung machte es ihm unmöglich, sich gegen seinen Herrn zu wenden. Doch er fühlte sich befähigt zu gehen. Er fragte nicht, sondern er gab seinem Dienstherrn zu verstehen, dass er fortgeht. Er verabschiedete sich bei dem Mädchen, nur bei ihm, und zog aus nach Zamonien.

Er war lange allein unterwegs, bis er in Buchhaim auf andere Wolpertinger traf. Sie rieten ihm, nach Wolperting zu gehen, und er folgte dieser Empfehlung. Dort angelangt, fügte sich Abellardo in die Aufgaben, die ihm die Stadt im Austausch für seine Rechte und Vergünstigungen auftrug. Doch es waren die anderen Wolpertinger, die heiteren, die verspielten, die mutigen und selbst die schwermütigen, die ihm bei der Entfaltung seines Wesens halfen. Er legte sich dort seine Regeln zurecht und zitierte sie, wenn er sich dabei ertappte, dass er den Zwängen seiner antrainierten Disziplin erlag. Abellardo schloss sich einer Gruppe von Freunden an, junge Wolpertinger, die auf der Suche nach Abenteuern durch Zamonien reisten. Mit ihnen fühlte er sich vollständiger, auch wenn er  zuweilen still, beobachtend, wachend auf Anweisung zu warten schien.



Wolpertinger II
Grimm vom Finsterwald
(dänische Dogge)
Grimm vom Finsterwald würde von vielen als Schurke bezeichnet werden, auch wenn seine Freunde diese Bezeichnung eher liebevoll aussprechen würden. Als geschickter und zäher Kämpfer und auch als gewitzter Stratege verfügt er über die typischen Tugenden der Wolpertinger. Doch seine moralischen Prinzipien unterwandern ein wenig die integren Ideale seiner Rasse. Das heißt nicht, dass seine Unternehmungen der Allgemeinheit schaden, doch nicht jeder, der ihm begegnete, denkt daran mit Freude zurück.

Grimm versteht sich selbst nicht als Bandit oder Räuber, sondern als Beschaffer und Neuverteiler. Die Begünstigten seiner Neuverteilungsaktionen sind Arme, Notleidende, Unterdrückte und Schwache und natürlich er selbst. „Selbst der dümmste Bauer beißt ein ordentliches Stück ab, bevor er die Kartoffel verkauft“, ist sein bevorzugter Leitsatz. Die Leidtragenden seiner Beschaffungsmaßnahmen sind hingegen stets schlimmere Schurken als er selbst. Grimm bestiehlt bevorzugt Diebe und Wegelagerer, Waldpiraten und Grasbanditen. Aber er scheut auch vor unterdrückenden Feudalherren, unehrlichen Händlern oder betrügerischen Antiquaren nicht zurück. Zu seinen höchsten Zielen gehört es, einmal die Bleibarone von Eisenstadt zu bestehlen.

Grimms Geschichte beginnt bereits hart an der Grenze. Für ihn schien die Entscheidung zu seiner Entwicklung zu einem wilden Wolpertinger bereits getroffen, als sich der Moment der Zivilisierung doch noch einstellte. Der kleine Grimm wurde von einem fahrenden Schmied, der mit seiner Familie durch die Dörfer zog, gefunden und adoptiert. Er lebte einige Wochen bei ihnen und genoss ein ausgiebig geknuddeltes Welpenleben. Grimm lernte sprechen, aufrecht gehen und er wuchs rasant. Doch schon bald stellte sich ein zamonisches Schicksal ein. Der Schmied und seine Familie gerieten in den Hinterhalt von Wegelagerern und wurden erschlagen. Grimm kam mit dem Leben davon, doch er wurde im Lager der Banditen an einer eisernen Kette gefangen gehalten. Die meisten Banditen schlugen und verspotteten ihn, doch einer der Älteren schien Grimm als Wolpertinger zu erkennen und sprach zu ihm. Wenn die Halunken zu ihren Raubzügen aufbrachen, blieb der Alte im Lager und brachte Grimm das Fechten mit Holzschwertern bei. Als nach einem Monat die Schläge durch die anderen Banditen überhandnahmen, half der Alte Grimm, der schnapstrunkenen Nachlässigkeit der Räuber zu entkommen. Grimm floh, so weit er konnte. Seine Flucht führte ihn unversehens nach Wolperting. Dort lernte er Schach spielen, lesen und schreiben und er bemühte sich im Andenken an den Schmied und seine Familie, das Schmieden zu erlernen. Aber Grimm zog es schon bald wieder in die Ferne. Etwas im Denken der Wolpertinger war ihm zu zögerlich, zu zurückhaltend. So ging er, bald nachdem er alles gelernt hatte, das ihm Wolperting beibringen konnte und das er für nützlich hielt.

Fernab der Stadt verbrachte Grimm einige Tage damit, über sich und seine Zukunft nachzudenken. Er wog das Für und Wider einer redlichen Tätigkeit wie dem Handwerk ab. Er überlegte, als Händler umherzureisen, doch er musste auch immer wieder an die Banditen denken, die ein solches Leben beschwerlich und gefährlich machten. Kurz zog er in Betracht, selbst ein Räuber zu werden, gewiss brachte dies die Freiheiten mit sich, die er für sich erhoffte, aber wenn er sich vorstellte, dass er selbst seiner Ziehfamilie gegenüberstand, um sie auszurauben, war ihm dieser Gedanke zuwider. Er kam schließlich zu dem Schluss, dass er gewiss nicht beliebige Leute bestehlen konnte, doch aber andere Diebe. Wenn jemand es verdient hatte, bestohlen zu werden, dann waren es Diebe und Räuber. Die Schieflage dieser moralischen Auslegung erfreute seinen Verstand, wenn dieser daraufhin abrutschte. Grimm blickte mit verwegenem Eifer in die Zukunft und begann sein Dasein als Schurke.




Wolpertinger III
Torren von der Krume
(Schnauzer)
In Kornheim lebte ein Gemüsebauer namens Knorke Vegibold. Knorke hatte einen Wurf junger Hunde im nahen Dorf gekauft, um sich von den Tieren seine Gemüsefelder bewachen zu lassen. Die Hunde sollten Krähen und andere räuberische Vögel vertreiben, die Knorkes Ernte plünderten. Der neunte der kleinen Hunde, und Knorke war sich sicher, er hätte nur acht erstanden, schlug aus der Art. Er sah etwas anders aus als seine acht Geschwister. Vielmehr ähnelte er keinem der anderen. Wie die anderen war er von ausgesuchter Niedlichkeit, aber er hatte nicht die gleiche Fellfarbe und eine andere Form. Doch Knorke kannte sich nicht aus mit Hunden, nur mit Gemüse. Der neunte kleine Hund tollte auch nicht mit seinen Geschwistern herum, er blieb immer an Knorkes Seite. Knorke, der ein gutes Herz hatte, freute sich über die Zutraulichkeit der kleinen Fellkugel und ließ sie gewähren.

Es ereignete sich, als Knorke mit dem Hund auf dem Feld war, um Kartoffelknollen zu setzen, dass Knorke den Spaten in den Boden treiben wollte, um ein Loch zu graben, wie er es so oft schon getan hatte. Da sprang der kleine Hund vor und buddelte mit seinen kleinen Vorderpfoten ein ideales Pflanzloch. Knorke staunte. Er wusste um die Nützlichkeit von Hunden, wenn es um das Bewachen ging, an Feldarbeit hatte er aber bisher nicht gedacht. Knorke setzte eine Kartoffelknolle in die Erde und strich dem kleinen Hund über den Kopf. Schließlich zog er in Betracht, sich das Ereignis wiederholen zu lassen. Er deutete auf die nächste Stelle, an der gepflanzt werden sollte und rief „Buddeln“. Der keine Hund sprang vor und warf erneut Erde hinter sich, sodass Knorke pflanzen konnte. Beim nächsten Versuch gruben er und der Hund jeder ein Loch, Knorke mit dem Spaten in einem Aushub, der Hund mit seinen Pfötchen. So konnten beide eine ganze Reihe in der halben Zeit, die Knorke allein gebraucht hätte, bepflanzen.
Über Wochen hinweg half der kleine Hund Knorke beim Graben. Knorke mit dem Spaten, der Hund mit den Pfoten. Der Hund wuchs schnell und Knorke freute sich über dieses pfiffige Tier. Doch eines Morgen, als Knorke auf dem Feld die Arbeit beginnen wollte und mit dem Ruf „Buddeln“ auf die Erde deutete, da zögerte der Hund, drehte um und wetzte davon, zurück zum Haus. Knorke wunderte sich, begann dann aber selbst zu graben. Einen Moment später stapfte der Hund an Knorke vorbei, auf seinen Hinterbeinen, aufrecht und mit einem Spaten in den Vorderpfoten. Er setzte den Spaten an und grub, wie Knorke, ein Loch in einem Aushub. Knorkes Kenntnisse über Hunde erweiterten sich in diesem Moment um ganze Welten. Als Knorke sich noch über seine Gemüsebauernkollegen ärgerte, die alle Hunde hatten, aber nie erwähnten, wie gut die mitarbeiten, hatte der Hund schon die ganze Reihe allein gegraben.

Mehr Zeit verging, in der der Hund zusehends behänder wurde und größer. Der Hund half nicht mehr nur beim Graben, sondern konnte auch geschickt und behutsam ernten.
Es begab sich, dass an einem Tag der Feldarbeit eine Gestalt auf Knorke und den Hund zutrat. Ein hochgewachsener, knitteriger Kerl mit einer Augenklappe und einem Geweih auf dem Kopf. Er stellte sich als Grimm vom Finsterwald vor und versuchte mit dem Hund zu sprechen. Der Hund hörte zu, genau wie Knorke, doch beide antworteten nicht. Da wandte sich der Fremde an Knorke und erklärte ihm, dass dieser Hund kein Hund sei, sondern ein Wolpertinger. Man erkennt es an den Hörnern auf seinem Kopf, dem aufrechten Gang, seinem Verstand und daran, dass er sprechen könnte, wenn er denn die Gelegenheit hätte, es zu lernen. Knorke erinnerte sich, dass der Hund so manches Mal ungewöhnliche Laute machte, als versuchte er, die Befehle zu wiederholen, aber man konnte nicht davon sprechen, dass er spräche. So wenig wie Knorke selbst zum Sprechen neigte, warum auch, es war für gewöhnlich niemand da, außer dem Hund. Grimm vom Finsterwald stupste den Gemüsebauern an, der seltsam versunken wirkte, und legte ihm dar, dass er den jungen Wolpertinger in die Stadt Wolperting bringen wollte, wo er lernen und unter seines Gleichen leben konnte.
Knorke war tief erschüttert und erbat sich einige Tage, um sich von seinem „Hund“ verabschieden zu können. Nach drei Tagen zog Grimm mit seinem Schützling los. Knorke vermisste seinen geschickten Hund. Er versuchte den Wachhunden das Graben beizubringen, doch sie gruben nur das unreife Gemüse aus.

Grimm lieferte den jungen Wolpertinger in Wolperting ab, wo er den Namen Torren von der Krume erhielt und das Sprechen lernte, dann das Lesen und Schreiben, das Schachspielen und Kämpfen. Außerdem lernte Torren, was man mit Gemüse machen konnte, wenn es geerntet war, wie das Salatschnippeln.  Torren arbeitete gern in Wolperting, besonders wenn die Arbeit mit Gemüse oder mit Graben zu tun hatte. In Wolperting genoss er sein Leben und erfreute sich an der Gemeinschaft. Er hätte nicht in Betracht gezogen, dass er die Stadt jemals wieder verlassen würde, doch an einem wolkenverhangenen Abend kehrte Grimm vom Finsterwald zurück und brauchte Hilfe bei einem formidablen Schurkenstück.



Wolpertinger IV
Ylvi vom Grünfels 
Tief in jedem von uns steckt eine alte Furcht. Die Furcht vor dem was im Dunkel lauert. Das Ungewisse, das Ungesehene, das was dort in der Finsternis, tief im schwärzesten Winkel atmet und auf den Moment der Unachtsamkeit wartet.
Als junger Wolpertingerwelpe tapste Ylvi aus dem Wald heraus, hinein in eine belebte Welt. Doch der Trubel der Stadt, das Geruchschaos und das lärmende Gezeter der vielfältigen Daseinsformen waren zu viel für Ylvis jüngst aufkeimenden Verstand. Als schließlich einige begannen dem wertvollen Wolpertingerwelpen nachzustellen, um Ylvi einzufangen, entwich sie der allgegenwärtigen Bedrohung und verschwand wieder im Wald. Sie rannte bis kein Geräusch, keine Witterung mehr auf die Stadt hinwies. Sie fand sich an einem Fluss wieder, tief im Wald unter einem grün bemoosten Felsen. Dort verbarg sie sich reglos und wartete auf eine Veränderung, von der sie nicht wusste, wie sie sein würde. Einige Nächte harrte sie dort aus und ertrug die Furcht und den Hunger, als ferne Geräusche immer näher kamen und eine gefährliche Witterung vorausschickten. Ein Rudel Wölfe kreiste Ylvi ein, kam unabwendbar näher, unsichtbar bis auf glühende Augen, kaum hörbar bis auf leises atmen. Aufgeregt musterten die Wölfe Ylvi, doch mag es sein, dass selbst hungrige Wölfe Mitleid haben können, denn sie fraßen Ylvi nicht. Ylvi sollte einen Platz im Rudel einnehmen und fortan rannte sie mit Wölfen.
Im Rudel lernte sie die Hierarchie, jedoch nur aus der niedrigsten Perspektive. Dennoch hatte Ylvi die Möglichkeit zu wachsen und stärker zu werden. Bis der Tag kam an dem Ylvis Wolpertingererbe sie auf die Hinterbeine erhob und sie der gewohnten Perspektive entzog. Damit war sie dem Rudel entwachsen und bekam das unverzüglich zu spüren.
Wieder allein, kehrte sie zu dem moosigen Felsen am Fluss zurück. Dort lagerte sie einige Zeit bis ihr hungriger Verstand mehr einforderte. Ideen funkten auf und Ylvi begann die Umstände zu verbessern. Sie hatte beschlossen, den Platz unter dem Felsen als ihr Revier zu beanspruchen. Sie stahl Werkzeuge aus den nächstgelegenen Siedlungen und baute sich ein Haus am Fuß des grünen Felsens.
Das Wolfsrudel respektierte Ylvis Revier, doch hatte es die alte Leitwölfin vertrieben. Sie war zu schwach zum Jagen und so nahm sich Ylvi ihrer an. Lange Zeit platzierte Ylvi Fleisch nahe ihrem Hause im Wald, so dass die alte Wölfin nicht verhungern musste. Doch irgendwann kam die Wölfin nicht mehr zum Fressen. Ylvi suchte tagelang nach ihr, konnte sie jedoch nicht finden.
Ylvi wartete vor ihrem Haus und witterte, doch die Wölfin kehrte nicht zurück.
Ylvis Stimmung verdunkelte sich. Sie fragte sich, wie lange sie an diesem Ort, auf diese Weise leben wollte. Es war ein gutes Leben. Ein Leben frei von Angst, ein sicheres Leben, ein stabiles Leben. Ein langweiliges Leben. Sie könnte später einmal zu diesem Leben zurückkehren. Doch dazu müsste sie zuvor fortgehen. An andere Orte, zu neuen Dingen, zu anderen Daseinsformen. Ylvi fragte sich, ob sie mehr erleben wollte und sagte "Ja". Es war das erste Wort, das Ylvi sprach und sie wusste nicht, dass sie es kannte und dass sie es sprechen konnte. Ylvi wollte mehr Worte lernen, mehr Dinge verstehen, mehr sehen, hören, riechen.
Ylvi stahl Kleidung, mit der sie sich umhüllte, weniger aus Scham, die sie bis dahin nicht kannte, sondern vielmehr, weil man sie ihrer Erfahrung nach einfangen wollte. Sie verbarg ihr Äußeres und zog aus in die Welt.
Zunächst bremste sie die Vorsicht aus und sie mied große Städte, doch sie wagte sich in Dörfer und Siedlungen. Zurückhaltend und immer am Rande des Geschehens lernte sie eifrig. Sprache lernte sie durch bloßes Zuhören und selbst das Lesen eröffnete sich ihr durch geringste Wortfetzen auf den Schildern und Etiketten auf den Märkten. Schon bald war Ylvi im Stande Zeitungen zu lesen, als wäre diese Fertigkeit in ihrer Natur verhaftet. So erfuhr Ylvi von fernen Orten, wie Buchhaim, einer Stadt, die beinahe das ganze Wissen Zamoniens in Bücher beherbergte, so dass man es jederzeit nutzen konnte. Sie las von Eisenstadt, dem Ort von überbordendem Handwerk, aber auch von fürchterlicher Unterdrückung. Sie las von Florinth, einer Stadt, so schön, dass die Schilderungen versagten. Und sie las von Wolperting, einer Stadt, in der es offenbar nur ihres Gleichen gab. Doch Ylvi erfuhr auch von schrecklichen Dingen. In einer Stadt nicht weit von ihr, ging ein Mörder um und die Stadtbüttel waren völlig überfordert. Jede Nacht fand man dort ein neues, übel zugerichtetes Opfer. Ylvis erste Reaktion war es diese Stadt zu meiden, doch ein seltsames Gefühl verdrängte die Furcht. Ein drängender, glühender Ärger erkämpfte sich Raum. Ylvis Gerechtigkeitssinn brach sich Bahn und sträubte büschelweise ihr Fell.
Ylvi erinnerte sich an die namenlose Furcht, die Angst vor dem Lauernden in der Dunkelheit. Sie fand, es war Zeit etwas zu ändern. Ylvi akzeptierte die Herausforderung und wollte sich der Sache annehmen. Mochte es sein, dass man nicht alle Furcht aus der Welt vertreiben konnte, doch dieser einen Ursache sollte man entgegentreten. Hier und jetzt konnte man etwas bewirken.
Am frühen Morgen, kurz nach Sonnenaufgang erreichte Ylvi die Grenzen der Stadt, in der der Schlächter umging. Etwas außerhalb blieb sie auf einem Hügel stehen und schloss die Augen. Sie witterte den Geruch, der von dort herüber zog ganz und gar. Jede Nuance und sei sie noch so unangenehm sollte ihr bekannt sein. Sie betrachtete die seltsame Schraffur aus Fachwerkhäusern, die sich immer deutlicher aus dem Morgennebel wand und stellte sich vor, sie könnte den Bütteln helfen, indem sie die Spur des Mörders erschnüffelte und ihm so vielleicht sogar bis zu seinem Unterschlupf zu folgen.
Als man ihr die Nase vor der Tür zuschlug wusste Ylvi, dass Stadtbüttel auch mit ihrer Hilfe nichts zustande bringen würden. Dann allein, dachte sie und begann zu ermitteln. Mit Hilfe der redseligen Leute fand sie all die Orte, an denen es Opfer gegeben hatte. Allesamt auf Straßen und kleinen Plätzen oder in Gassen. Doch alle so verbaut und eng, dass sie des nachts selbst bei Vollmond dunkel und lichtlos sein mussten. Der Mörder lauerte auf seine Opfer. Überall untersuchte sie den Boden, Kopfsteinpflaster, Bretterboden, festgetretene Erde, Matsch, die Wände, Fachwerk und Steine, Seitengassen und selbst die Dächer. Jeder verdächtige Fleck wurde beschnüffelt, jeder Holzsplitter vor die scharfen Augen gehalten und jeder Fetzen Stoff auf Spuren untersucht. Ylvi war nicht unzufrieden. Der Mörder schien sich keine Sorgen zu machen entdeckt zu werden, indem er Spuren hinterließ. An allen Orten bemerkte Ylvi die gleiche Witterung. An alten Schauplätzen nur blass und unauffällig, doch an frischen Tatorten deutlich und klar umrissen. Ein abstoßender Mief, schwarz und braun und rot, schwer und klebrig. Ein Geruch von Borsten, schlechter Hygiene und viel Blut. Selbst in dem ausufernden Geruchsspektakel der Stadt hielt Ylvi es für möglich diese Witterung auszumachen.
Als die Schatten allmählich länger und dunkler wurden begann Ylvi im Umkreis um den letzten Tatort zu patrouillieren. Der Mörder hatte sich innerhalb der Stadt fortbewegt und entfernte sich immer weiter von den ersten Tatorten. Ylvi vermutete, dass er planlos vorging, dass er die Stadt frei nach Schnauze erkundete. Wo er sich tagsüber aufhielt war ungewiss, doch sie glaubte sagen zu können, wo er nachts auftauchen würde.
Ylvi streifte Stunde um Stunde durch die Stadt, ging immer wieder durch dieselben Gassen. Mitternacht war schon vergangen und kaum jemand war auf den Straßen. Nur vereinzelte Trunkenbolde, die spät die Wirtshäuser verließen, wagten sich noch heraus. Ylvi näherte sich einer jener Schenken, deren Licht wie Inseln in einem Ozean aus Finsternis wirkten, als sie die gesuchte Witterung aufnahm. Abrupt blieb sie stehen, ihr Nackenfell schien schon vor ihr selbst zu wissen was vor sich ging und richtete sich auf. Ylvi sog den Wind ein, der den ranzigen Mief die Straße hinabtrug und starrte in die Schwärze jenseits des hellen Flecks um die Schenke. Sie befand sich außerhalb des Lichtkreises und stand im Gegenwind, welcher Daseinsform der Mörder auch angehören würde, er müsste übernatürliche Sinne besitzen um sie bemerken zu können. Ylvi zog in Erwägung sich zurück zu ziehen, um sich von einer anderen Seite zu nähern, als die Tür der Schenke aufschwang und ein volltrunkener Hundling heraus torkelte. Sofort dachte Ylvi, lauf nicht in diese Richtung du Trottel, doch der Trottel wankte in eben jene Richtung, aus der der üble Brodem herüber wehte. Ylvi atmete durch und verfluchte innerlich den Lauf der Dinge, der alle Anzeichen vom Schiefgehen vorausschickte. Ylvis Gedanken rasten, sollte sie den Hundling aufhalten und riskieren den Mörder zu alarmieren, sollte sie warten bis der Mörder sich zeigte und riskieren, dass der Hundling verletzt oder getötet wird? Was sollte sie unternehmen, wenn der Mörder sie beide angreift? Entsetzt stellte Ylvi fest, dass sie unbewaffnet angetreten war, gegen einen Gegner, der allem Anschein nach mit wechselnden Gerätschaften und rasender Gewalt vorging. Ob Ylvi den Entschluss selbst gefasst hatte wusste sie später nicht mehr, doch sie war nach vorn gestürzt und hatte den Hundling an der Schulter gepackt und herumgerissen. Dieser wiederum erschrak so heftig, dass er unverzüglich ausnüchterte und anschließend zusammensackte. Ylvi zerrte ihn an seiner Jacke zurück ins Licht der Schenke, doch im Dunkel war bereits Bewegung. Ylvis Nase verriet ihr die Annäherung, welcher ihre Sinne sie unter dem wuchtigen Schlag abtauchen ließ wusste sie nicht, doch dieser fand seine Reize in feinsten Luftverwirbelungen und er war schnell. Noch schneller als Ylvi es nun wurde. Sie erkannte die Kraft und das Tempo in der Bewegung und dennoch wirkte es so, als könnte sie dem Arm in aller Ruhe zusehen, wie er über sie hinweg zog. Sie taxierte die dreifingerige Faust, das borstige Fell auf den bulligen Unterarmen und noch bevor die ungebremste Wucht den Angreifer ins Wanke geraten ließ, teilte Ylvi einen steinharten Fußtritt gegen sein Knie aus. Bei dem Aufschlag knirschte etwas und das Bein des Mörders ruckte zurück, wie von einem Rammbock getroffen. Sein grunzender Aufschrei hallte durch die Straße und verbreitete sich über die Gassen in alle Richtungen. Doch Ylvi zögerte nicht. Sofort setzte sie nach und trat ihrem Gegner von unten gegen das Kinn. Erneut knirschte etwas und dem Mörder schienen erste Zweifel zu kommen. Mit Gegenwehr schien er nicht zu rechnen. Er wankte zurück und schon schlug Ylvi mit geballter Faust auf seine triefende Nase. Um sie herum wurden Fenster geöffnet, Stimmen wurden laut und Leute traten aus der Schenke. Sofort herrschte Einigkeit darüber, dass hier der Mörder sein Unwesen trieb und unerklärlicherweise waren sofort Waffen und Geräte zur Hand um dem Einhalt zu gebieten. Als Ylvi zum nächsten Schlag ausholen wollte, zersprang ein Nachttopf klirrend auf dem Kopf des Mörders, geworfen aus einem Fenster. Der Publikumsandrang und die unerwartete Beteiligung der Zuschauer ließen den Mörder endgültig den Rückzug antreten und er wetzte trotz des angeschlagenen Knies mit beachtlichem Tempo davon. Ylvi, die wegen des Hagels von Gegenständen aus den höheren Fenstern zögerte, setzte dem Mörder nach, der rasant durch Straßen, Gassen und Stiegen Haken schlug. Ylvi war schnell, doch immer wieder verlor sie ihn aus den Augen und musste der Witterung folgen. Schließlich sah sie den Mörder einige Dutzend Schritte voraus. Sie sah sich um, ob etwas in Reichweite war, das als Waffe taugte, als der Mörder von einer Kante aus hinabsprang. Das Platschen von Wasser verriet Ylvi, das er in den Fluss gesprungen war. So schnell sie konnte lief sie zu der Brücke, von der er entkam und versuchte zu sehen, wohin er verschwand. Ylvi starrte auf das fahle Funkeln, dass das Mondlicht auf den Fluss sprenkelte und sah Nichts. Der Mörder war im Wasser verschwunden und mit ihm seine Witterung.   
Zurück am Schauplatz ihres Kampfes, fand Ylvi zwischen den vielen geworfenen Gegenständen einen großen, sichelförmig gekrümmten Zahn. Sie hatte den Mörder mit ihrem zweiten Tritt den Zahn abgebrochen. Sie hatte schon zuvor Daseinsformen mit solchen Zähnen gesehen und die Leute, die immer noch vor der Schenke standen und sich mit Lampen und Fackel auf der Straße tummelten, als sei ein Jahrmarkt im Gang, verrieten ihr, dass es sich um einen gewaltigen Wildschweinling handelte. Doch Niemand kannte ihn. An seiner Tür zu klopfen kam also nicht in Frage. Auch würde er wohl sein Vorgehen ändern, dass er bereits am nächsten Tag wieder zuschlagen würde war unwahrscheinlich. Doch Ylvi würde auch in der nächsten Nacht wieder patrouillieren. Und auch sie müsste ihre Methoden anpassen. Den Rest der Nacht verbrachte Ylvi in der Schenke. Dort bekam sie von den Leuten, die ihren tapferen Einsatz beobachtet hatten, etwas zu Essen und reichlich zu Trinken spendiert und man ließ sie sich in einem der Hinterzimmer ausruhen.
Der nächste Morgen kam für sie früh, doch sie hatte auch nicht das Bedürfnis lange zu schlafen. Sie war munter und aufgekratzt, erwartungsvoll, motiviert und im richtigen Maße wütend. Sie beschaffte sich für die nächste Nacht dunklere Kleidung und einen schwarzen Umhang, mit einer tiefen Kapuze, unter der sie das Funkeln in ihren Wolpertingeraugen verbergen konnte. Ganz und gar unerwartet war die Rückkehr des geretteten Hundlings. Er wollte Ylvi danken und überließ ihr für die Rettung seines alten Fells sein Schwert. Es war kein schönes, sondern ehr ein praktisches Schwert und die schartige Klinge erzählte viele Geschichten, doch Ylvi war dankbar und versprach, dass Beste daraus zu machen. Der Hundling erzählte Ylvi, dass das Schwert Niederschnitt hieß, das er es aber wegen der vielen Scharten nur noch Sägeblatt nannte. Er hatte eines Tages beschlossen, dass er die Scharten nicht mehr ausbessern würde und wenn es hundert Stück waren und er noch nicht tot war, dann würde er sich aus dem Kampf zurückziehen und das Schwert an einen würdigen jüngeren Kämpfer übergeben. Ylvi fühlte sich geehrt und zog in Betracht die Scharten in der Klinge zu lassen. In einer Schmiede feilte sie die stumpfen Kerben so an, dass die Klinge nun von vielen kleinen scharfen Sägezähnen glänzte. Sie betrachtete die Klinge und leckte sich über ihre Zähne, beide hatten jetzt einen ordentlichen Biss.
Ylvi nutzte die Zeit bis zum Abendgrauen. Am Ort ihres Kampfes mit dem Wildschweinling studierte sie jeden Winkel, untersuchte die dunkle Ecke, in der er gelauert hatte und rang dem Schauplatz jede Information ab, die ihr bei der Jagd helfen konnte. Ihr Gegner war kräftig, kräftiger als sie. Doch er war langsamer, gerade zu schwerfällig im Vergleich zu ihr. Er schien auch kurzsichtig zu sein und er war Gegenwehr nicht gewohnt. Doch man musste auch mit Anpassungsfähigkeit rechnen, denn er hatte seine Mordserie mit einem stumpfen Gegenstand begonnen, mit dem er seine ersten Opfer erschlug, vielleicht ein zufällig herumliegendes Kantholz. Daraufhin hatte er ein spitzes, gebogenes Werkzeug, wie einen Frachthaken verwendet. Schließlich benutzte er eine scharfe breite Klinge, kurz wie ein Beil. Sie wusste nicht, was ihn antrieb, doch da war etwas Berechenbares in seinem Verhalten. Ylvis Wolpertingerintuition machte es ihr möglich sein Vorgehen bis zu einem bestimmten Punkt abzuschätzen. Auch wenn es gegen alle Vernunft war, er würde heute Nacht erneut zuschlagen und Ylvi ahnte, wo sie ihn erwarten konnte.
Als die Finsternis der Nacht ihre tiefste Schwärze erreicht hatte und das Licht des Mondes nur noch eine verblassende Erinnerung hinter dichten Wolken war, da atmete Etwas im tiefen Dunkel. Ein leises, kaum hörbares Atmen und doch heiß und von Wut getrieben. Rage, gebündelt durch die Geduld des lauernden Jägers pulste durch erwartungsvoll gespannte Muskeln. In der Schwärze wartete ein unnachgiebiges, urzeitliches Grauen auf den Moment der Unachtsamkeit. Als sich etwas auf der Straße regte, katapultierten Reflexe den lauernden Jäger aus dem Versteck. Ylvi sprang mit erhobenem Schwert aus dem düsteren Winkel an einem Schornstein, hinab auf die Straße und rammte dem pirschenden Wildschweinling die Klinge in die Schulter. Der gezahnte Stahl verursachte ein Geräusch von reißendem Stoff und ein Schwall von dunklem Blut quoll hervor, als Ylvi die Klinge dreht und vor und zurück ruckte. Der geschockte Wildschweinling quiekte auf und wand sich vor Schmerzen. Mochte er in diesem Moment begreifen, welches Leid er verursacht hatte oder die tief verborgene Furcht aller Geschöpfe vor dem Grauen, das sie jagt, hatte ihn erteilt, doch er konnte kaum mehr tun, als Ylvi mit weit aufgerissenen Augen anzustarren. Er versuchte vor der schwarz verhüllten Gestalt zurück zu weichen und dem Blick der glühenden Augen unter der Kapuze, den hell aufblitzenden Zähnen und der reißenden Klinge zu entgehen. Er kroch über den Boden und keuchte schwerfällig. Er schien zu begreifen. Die Finsternis, das Grauen im Dunkel, war gekommen und hatte ihn geholt. Er blieb liegen und schloss die Augen. Ylvi stand nur da, mit dem tropfenden Schwert in der Hand, eingehüllt in ihren schwarzen Umhang und nicht sicher, ob dies der richtige Weg war den Mörder zu stoppen. Doch es war getan.
Ylvi erkannte, dass es viele Wege gab Dinge zu erledigen und dass man den finden musste, mit dessen Konsequenzen man leben konnte. Als sie sicher war, dass der Wildschweinling tot war, drehte sie sich um und ging fort. Sie wartete nicht ab, ob die Bürger oder die Stadtbüttel ihr auf die Schulter klopften. Für sie war diese Sache erledigt und dennoch fühlte es sich nicht wie ein Triumph an. Sie wollte vorerst einen anderen Weg beschreiten und begab sich nach Wolperting. Dort, wo sie auf viele Wolpertinger traf und viele neue Dinge lernen konnte, wie Schach und das Lesen guter Literatur, da hielt sie ihren Sieg über den Mörder geheim. Doch so wie Schimmel sich ausbreitet, so kam auch das Gerücht um die Wolpertingerin, die einen mordenden Wildschweinling besiegt hatte, nach Wolperting. Wenn auch nur Wenige Ylvi darin zu erkennen schienen, so gehörte doch Grimm vom Finsterwald zu ihnen. Er suchte Ylvi auf und schlug ihr die Teilnahme an einem ausgefuchsten Schurkenstück vor.



Wolpertinger V
Wulfrig vom Unterholz
Wenn die Welt dich an einem einsamen Ort mit deinen Gedanken allein zurücklässt, lernst du zu verstehen, was du wirklich willst, bis die Gedanken ausfransen und du blöd wirst. Als Wulfrig aus dem Schatten der Wälder trat, hatte er bewusst entschieden kein wilder Wolpertinger zu werden. Wie ihm das gelungen war, wusste er nicht.
Lange zuvor hatten sich in seinem kleinen Welpenkopf Gedanken geformt und er hatte die Dinge infrage gestellt. Dinge wie den Mond, der zunächst eine seltsame Faszination ausübte, sich dann aber durch genaue Betrachtung als sehr inaktives und sehr weit entferntes Objekt erwiesen hatte. Dinge wie Bäume, um die man herumlaufen und an die man pinkeln konnte. Dinge wie Steine, an die man auch gut pinkeln konnte. Aber auch Dinge wie der Fluss, bei dem es überflüssig schien reinzupinkeln. Vom Fluss lernte Wulfrig die unaufhaltsame Veränderlichkeit der Dinge, aber auch ihren Elan. Bäume und Steine waren sehr langsam in ihrer Veränderung, doch der Fluss bewegte sich und hielt nicht still. Wulfrig verstand die Qualität der Veränderung, begriff aber auch die Gefahr, als er in den Fluss fiel und beinahe ertrank. Er verstand aber auch, dass der Fluss nicht aus einer Intention heraus handelt, sondern das tat, was er immer tat, ganz ohne Absicht. Ganz anders als der gewaltige Bär, der versuchte, ihn zu fressen, und dem er nur unter Aufwendung all seiner Kräfte entkam. Der Bär konnte entscheiden, ob er ihn frisst oder nicht. Wulfrig hielt es für richtig, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die wie Bäume, Steine und Flüsse waren, und denen, die wie Bären waren oder sogar wie er selbst. Sich konnte er nicht ausnehmen. Er jagte auch nach kleinen Dingen, die wegliefen, und wenn er sie erwischte, fraß er sie. Er passte daraufhin sein Fressverhalten an seine Erfahrung an und fraß die meiste Zeit nur Pflanzen, Wurzeln und Beeren, die er viel bekömmlicher fand, da sie kein Fell oder Federn hatten. Weglaufende Dinge fraß er nur noch selten und nur dann, wenn er nicht einmal mehr essbare Wurzeln finden konnte. Für Wulfrig stand fest, dass für alle Dinge Regeln gelten mussten. Die Regeln für die Baum-, Fluss- und Steindinge standen fest, daran war nicht zu rütteln. Doch für die weglaufenden und die verfolgenden Dinge, für alle die entscheiden konnten, mussten Regeln her. Er hatte entschieden, nicht mehr zu den Verfolgern zu gehören, jedenfalls nicht so oft. Doch er wollte demzufolge auch nicht mehr zu den Weglaufenden gehören müssen. Das stand für ihn kategorisch fest.
Aus seiner Zeit im Wald stammten die ersten vier Regeln und diese schienen ihm zunächst die wichtigsten zu sein.

Die Jagd- und Fressregel: Wer nicht gejagt werden will, sollte niemanden jagen. Wer nicht gefressen werden will, sollte niemanden fressen. Beeren sind lecker, Wurzeln kann man auch essen.

Die Denkregel: Zuerst denken, dann das Denken überdenken und daraufhin handeln. Schließlich noch mal denken. Das Denken ist der Unterschied. Das Denken ist die Quelle der Vernunft.

Die Vernunftregel: Über allen Regeln sollte die Vernunft stehen. Vor jedem Verbot sollte die Vernunft zur Einsicht führen. Jede Tat sollte von vorbildlicher Vernunft durchdrungen sein. Sollte die Vernunft versagen, gilt die Faustregel.

Die Faustregel: Nicht alle Daseinsformen, vernunftbegabt oder nicht, sprechen auf Argumente an. Wenn ihre Absichten das Leid anderer zur Folge haben, Verhandlungen, Vorschläge und Alternativen daran nichts ändern, dann sollte ihr Standpunkt durch die Faust neu ausgerichtet werden.
Als Wulfrig in die Zivilisation gelangte, bemerkte er Schwachstellen in seinem Verständnis der Welt und versuchte mit weiteren Regeln nachzubessern.
Die zweite Faustregel: Was der rechten Faust nicht gelingt, gelingt vielleicht der linken. Zuschlagen ist die letzte Option, oder Treten.

Die Besitzregel: Was jemandem gehört, gehört niemandem sonst. Was niemandem gehört, gehört allen. Was jemandem gehörte und dann jemand anderem gehört, ist gestohlen oder verkauft, der Unterschied ist der Preis.

Die Lügenregel: Die Lüge ist das Gegenteil zur Wahrheit. Zur Wahrheit gibt es keine Alternativen. Die Lüge stammt nicht aus der Natur, die Lüge entsteht durch das Denken. Die Lüge wendet sich gegen die Vernunft. Die Lüge muss erkannt und vermieden werden.

Die Absichtsregel: Eine Handlung in guter Absicht und eine Handlung in schlechter Absicht, die zum selben Resultat führen, führen zum selben Resultat. Die Absicht ist nur ein Standpunkt. Die Absicht ist für das Resultat ohne Bedeutung. Die Vernunft muss die Quelle der Absicht sein und die Qualität des Resultats bestimmen.

Die Freunderegel: Findet man Freunde, bildet man ein Rudel. Das Rudel ist nicht die Ausgrenzung anderer, sondern das Nahehalten bestimmter. Mit dem Rudel ist mehr möglich als ohne das Rudel. Freunde beschützt man, Freunde beschützen dich, das Rudel ist Schutz.

Die Zufriedenheitsregel: Zufriedenheit ist gut, für eine Weile. Die Zufriedenheit ist der Grund, weshalb man sich nicht verbessert. Zufriedenheit darf nicht das Streben verdrängen.

Diese zehn Regeln waren der Auftakt zu Wulfrigs Beschäftigung mit dem Sehen, Verstehen und Denken. Er würde zu einem Denker seiner Epoche werden und den Wolpertingern einen Leitfaden reichen mit dem sie in der Gesellschaft anderer Daseinsformen Fuß fassen können.
Wolpertinger
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